Piraten intern Weltlage

#hollerkaputt

Seit einigen Tagen geistert im Netz die private Spendenkampagne von Claudius Holler herum, in der er um Spenden für sich bittet, um seine rückständigen Beiträge bei der Krankenkasse bezahlen zu können, in der Folge wieder krankenversichert zu sein und seine Behandlung wegen Hodenkrebs zu beginnen.

Die Kampagne kam mit folgendem Video ins Rollen:

Seitdem wird sie insbesondere von bekannten Leuten aus der Netzcommunity, einigen Prominenten, aber auch von Teilen der Piratenpartei als seiner ehemaligen Partei geteilt und mittlerweile daher auch in den Onlineauftritten diverser Medienhäuser besprochen.

Zuerst einmal: niemandem ist zu wünschen, von einer ernsten bis lebensbedrohlichen Krankheit betroffen zu sein. Ich wünsche Claudius daher sehr viel Kraft, Mut und Zuversicht, die nächsten Monate zu überstehen und wieder gesund zu werden. Ich bin erleichtert zu hören, daß es sich um eine Krebsart handelt, die nach aktuellem Wissensstand kein überlebenswichtiges Organ betrifft und gute Heilungschancen hat.
Ebenfalls möchte ich Claudius Respekt für sein bisheriges Engagement zollen, sei es für die Piraten als auch für seine vielen Projekte, die dem Feedback nach zu urteilen vielen Menschen sehr am Herzen liegen.

Ich beschäftige mich seit etwa 2010 mit dem Bereich Arbeitspolitik, zu dem auch Hartz IV gehört (einige meinen, dies wäre Sozialpolitik, aber dieses Streitthema soll ein andermal besprochen werden.). Seitdem ich Stadträtin bin, bin ich stellvertretendes Mitglied im Fachausschuß Wirtschaft und Arbeit und auch in den Jobcenterbeirat berufen worden.
Zu vielen Informationen, die Claudius in seinem Video gibt, kann ich mangels Kenntnis nicht sagen. Zwei zentrale Aussagen jedoch sind mir aufgefallen, die erstaunlicherweise bisher von den größeren Medien gar nicht thematisiert wurden:

Selbständigkeit und Hartz IV
Selbstverständlich kann man selbständig sein und bleiben und dennoch Hartz IV beantragen und auch erhalten. Es gibt viele Selbständige, die zu Beginn der Selbständigkeit oder auch später immer mal wieder auf Hartz IV angewiesen sind. Man muß weder Gründer sein, noch eine Ich-AG haben oder Gründerzuschuß erhalten, um seinen Anspruch auf Hartz IV durchzusetzen.

Generell gilt: wenn das Geld voraussichtlich zum Leben nicht reicht, ist es möglich, Hartz IV zu beantragen und zu bekommen. Notfalls kann man diesen Anspruch auch mit Hilfe eines Sozialrechtsanwalts durchsetzen. Es zählen hier lediglich die Gewinne, die man mit der Selbständigkeit erzielt. Man füllt die so genannte Anlage EKS aus, wo man dokumentiert, welche Einnahmen und Ausgaben man hat (Ja, die Ausgaben für eine Selbständigkeit kann man in einem gewissen Umfang gegenrechnen, so das sich bei der Berechnung des Anspruches auch ein realistisches Bild ergibt. Nicht gegenrechnen kann man lediglich Ausgaben, die vermeidbar oder grob überdimensioniert sind, z.B. wenn man sich ein MacBook kauft, obwohl es ein normaler Laptop für die Hälfte des Preises getan hätte.).

Ich kann daher nicht nachvollziehen, wieso Claudius sagt, daß er nur dann Hartz IV beantragen und bekommen könne, wenn er seine Firma insolvent meldet. Dies wäre mir neu und wäre auch unter Umständen einer Aussage des Jobcenters, die man sozialrechtlich überprüfen müßte, wenn sie denn so getätigt worden ist.

Das Jobcenter kann einen nicht zwingen, eine Selbständigkeit aufzugeben, besonders dann nicht, wenn die Firmeninsolvenz noch mehrere Menschen betreffen würde (wie es hier wohl der Fall zu sein scheint).
Was das Jobcenter kann, ist, einen aus der Betreuung der Selbständigen (für die es meist im Organigramm des Jobcenter ein eigenes Team gibt) herausnehmen und arbeitssuchend melden und dann eine entsprechende Eingliederungsvereinbarung (z.B. mit der Maßgabe, sich bei anderen Firmen zu bewerben) abschließen.

Krankheit und fehlende Krankenversicherung
Richtig ist, daß bei uns in Deutschland Versicherungspflicht im Bereich Krankenkasse herrscht und daher niemand ohne Krankenkasse sein sollte. Richtig ist auch, daß hier für Selbständige besondere Schwierigkeiten entstehen, da diese meist in einer privaten Krankenkasse oder eben freiwillig gesetzlich versichert, wofür sie meist deutlich höhere Beiträge zahlen müssen, da angenommen wird, Selbständige würden per se deutlich mehr verdienen als Angestellte.

Richtig ist auch, daß bei Ausbleiben der Krankenkassenbeiträge die Leistungen der Krankenkasse nach einer Weile auf Eis gelegt werden (eine gewisse Übergangszeit wird von den Krankenkassen meist toleriert) und die normalen ärztlichen Behandlungen nicht mehr übernommen werden.

Richtig ist ebenfalls, daß es nicht genügt, nach einer Weile der Nichtzahlung wieder eine Zahlung für den aktuellen Monat zu leisten – es müssen sämtliche Beiträge aus der Vergangenheit ausgeglichen sein, um wieder ganz normal versichert zu sein.

Aber: alle vorgenannten Ausführungen gelten nicht, wenn es sich um die sogenannte Notfallversorgung handelt. Das bedeutet, wenn ein aktuell nicht vollständig Krankenversicherter einen Unfall hat, wird er dennoch versorgt werden und medizinische Leistungen erhalten.
Zu dieser Notfallversorgung zählt auch die Behandlung von akuten Erkrankungen. Niemand wird mit einer Lungenentzündung oder mit einem Ausbruch von Masern nach Hause geschickt, nur weil er seine Krankenkassenbeiträge nicht bezahlt hat.

Daß ein diagnostizierter Hodenkrebs zu akuten Erkrankungen zählt, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Die Krankheit Krebs ist unbehandelt immer noch tödlich und kann daher auch vom schlechtmeinendsten Krankenkassen-Mitarbeiter nicht mit einer Handbewegung abgetan werden.

Ich vermag nicht zu sagen, ob diese beiden mir aufgefallenen Punkte lediglich eine unzureichende, verkürzte oder mißverständliche Darstellung in Claudius‘ Video waren, ob er tatsächlich falsche Auskünfte bekommen hat, ob es noch andere Erklärungen gibt oder es sich tatsächlich – das fände ich am schlimmsten – um eine bewußte Fehldarstellung handelt.

Dennoch: mein Menschenbild ist ein durchgängig gutes. Ich vermute immer zuerst, daß sich hier Fehler eingeschlichen haben, als daß wir bewußt belogen werden.
Und eben weil Claudius sich bisher dem Großteil der Piraten gegenüber nicht gerade wie ein Gentleman verhalten hat, weil sein bisheriges Verhalten nicht gerade von Anstand geprägt war und weil ich auch zu dem Teil der Piraten gehöre, die oftmals das Ziel von Angriffen von seiner Seite waren, möchte ich hier mit gutem Beispiel vorangehen und ihm spenden. Gegen jedes Lagerdenken, gegen jeden Zweifel.

Bestenfalls machen ihn dieser Schicksalsschlag und die Hilfsbereitschaft, die er jetzt erfährt, zu einem besseren Menschen.
Und wenn in fünf Jahren die Diagnose ‚krebsfrei‘ lautet, geh ich mit ihm gern eine Mate trinken.

12 Kommentare zu “#hollerkaputt

  1. Pingback: Krankenversicherungspflicht und BGE – alm10965

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