Kolumnen Weltlage

10 Jahre Hartz IV oder: Seien Sie sauer!

Bild von Peter Stanic auf Pixabay

Dieser Text war ein Gastbeitrag für die Leipziger Internetzeitung in der Rubrik „Wenn Leipziger träumen“ und ist zuerst dort erschienen.

Überfüllter Supermarkt. Nachweihnachtliche Einkäufe. Man trifft auf Bekannte, plaudert, es wird über das gerade vergangene, nicht ganz billige Fest gesprochen. Kaum fallen jedoch die Worte ‚Geld‘ oder ‚teuer‘, scheinen sich manche Menschen bemüßigt zu fühlen, im selben Atemzug das Luxusleben der Hartz-IV-Empfänger anzuprangern („WIR können uns nur No-Name-Produkte leisten, DIE kaufen von Dr. Oetker…“). Zehn Jahre nach Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe gilt es offenbar als gesellschaftlich akzeptiert, eine ganze Bevölkerungsgruppe allein aufgrund der Herkunft ihrer monatlichen Einnahmen herabzuwürdigen.

Dabei sind die meisten Menschen entweder so weit von der Hartz-IV-Grenze entfernt, dass sie nicht mal eine Ahnung haben, wie es sich anfühlen würde, von so wenig Geld dauerhaft zu leben – oder aber so nah dran, dass sie lieber noch nach unten treten als sich endlich zu solidarisieren. Man muss neidlos anerkennen, dass die Bestrebungen, Hartz-IV-Empfänger zu stigmatisieren, lächerlich zu machen und zu diskreditieren, tadellos gewirkt haben. Hierfür hat mit seinen Tagesprogrammen unter anderem derselbe Medienkonzern gesorgt, der maßgeblich an der Entwicklung der Hartz-Gesetze beteiligt war.

Jeder, der nicht dem landläufigen Konzept von „Erwerbsarbeit“ nachgeht und vermeintlich der Gesellschaft „auf der Tasche“ liegt, scheint sich rechtfertigen zu müssen – und das erstaunlicherweise vor den Menschen, die sonst gern auf „den Staat“ schimpfen, das Steuern zahlen als Zumutung begreifen und bereitwillig jede Lücke nutzen, dem Staat Geld vorzuenthalten. Wenn es jedoch gegen Hartz-IV-Empfänger geht, dann ist man eilfertig bereit, eben jenem Staat Geld zu sparen, damit dieser vermeintlich sinnvollere Dinge finanzieren kann.

Aber so ein Hartz-IV-Empfänger ist ja ein dankbares Opfer:
demotiviert, mürbe gemacht und bereits durch das Jobcenter genügend weichgekocht, hat er nicht mal mehr die Kraft, sich gegen solche Anwürfe zu wehren. Er lebt ja schließlich – das wird ihm unverblümt mitgeteilt – von den Steuern anderer. Damit scheint gleichzeitig auch die Vorstellung verbunden, dass sich der Hartz-IV-Bezieher gefälligst auch nach der jeweiligen Lebensauffassung der vermeintlichen Geldgeber zu richten habe.
Aber Hartz IV ist kein Almosen – Hartz IV ist ein gesetzlich verbrieftes Recht. Und zur Überraschung der meisten: Steuern zahlt jeder Hartz-IV-Empfänger. Zum Beispiel mit jedem Einkauf. Es besteht also kein Grund für Überheblichkeit.

Aber der Neid funktioniert auch gut in die andere Richtung: jeder, der deutlich mehr verdient als der Durchschnitt, wird misstrauisch beäugt. Wieso kriegt ein Manager so viel? Sollte der nicht an die schichtarbeitende Krankenschwester etwas abgeben? Oder sich zumindest ordentlich dafür schämen? Das Problem ist doch im Grunde nicht, dass einige viel Geld verdienen, sondern dass viele zu wenig bekommen. Verdiente eine Krankenschwester mehr, wenn ein Hartz-IV-Empfänger gar nichts mehr bekäme?

Ich höre immer wieder, dass Hartz IV doch ein komfortables und auskömmliches Leben ermögliche. Nun, wenigen bestimmt. Den meisten wohl eher nicht.

Tortendiagramm zum Hartz-IV-Regelsatz 2015

Wer da zweifelt, möge doch einmal versuchen, mit etwa 25 Euro für Verkehr auszukommen. Ein Sozialticket der LVB kostet knappe 30,00 Euro (ab August dann mehr). Oder die generösen 33,36 Euro für Wohnen, Energie UND Wohninstandhaltung. Allein der monatliche Abschlag für Strom dürfte bei den meisten Haushalten höher liegen. Da kann man sich jeden Monat wieder entscheiden: Strom zahlen oder lieber eine Reparatur durchführen lassen? (Ja, Kleinreparaturen hat der Mieter durchzuführen.) Auch die 35,23 Euro für Nachrichtenübermittlung sind durchdacht. Allein die Gebühr fürs Kabelfernsehen (worauf die meisten Mieter zurückgreifen müssen), macht schon fast zwei Drittel dieser Summe aus.
Besonders überzeugend: für Bildung wird jedem Hartz-IV-Empfänger 1,52 Euro zugestanden. Da liegt der Gedanke nicht fern, dass es gar nicht erwünscht ist, dass sich jemand (weiter-)bildet. Er möge am besten so strohdumm bleiben, dass er nicht aufmuckt, wenn man ihn in jeden blöden Job und jede noch so stupide Maßnahme drückt.

Fragen Sie sich doch mal selbst: würden Sie jeden Job annehmen müssen wollen? Ist es richtig, dass wir in einer Arbeitswelt, wo durch Fortschritt immer mehr Jobs wegfallen, immer noch von möglicher Vollbeschäftigung ausgehen? Wollen wir, dass Arbeit weiterhin nur zum Lebensunterhalt dient? Dass man sich jeden Tag unwillig in die Firma schleppt? Dass die eigentliche Freizeit für An- und Abreise zum Arbeitsplatz draufgeht? Dass man von der ungeliebten Tätigkeit allein psychisch so erschöpft ist, dass Hobbies, Freunde und selbstbestimmte Tagesgestaltung hinten runter fallen? Dass man von einem Ort, an dem man sich wohlfühlt und gern aufhält, wegziehen muss, nur weil die Arbeit ganz woanders ist?
Stellen Sie sich bitte vor, das würde Ihnen passieren – wie lebenswert wäre Ihr Leben noch?

Wir haben nur dieses eine Leben. Es gibt keinen Grund für Neid und Missgunst. Seien sie sauer auf Arbeitgeber, die den Mindestlohn für geschäftsschädigend halten und damit offenbaren, dass sie ihrem Personal einfach kein auskömmliches Geld zahlen wollen. Seien sie sauer auf politische Parteien, die es ermöglichen, Menschen als „Human Ressources“, als menschliches Material zu betrachten und als solches zu behandeln. Seien Sie sauer auf Investoren, die ihren Kontostand statt das Wohl unserer Stadt im Blick haben. Seien Sie sauer auf Bürgerbewegungen, die Ihnen leichte Antworten und einfache Feindbilder bieten. Bleiben Sie kritisch ohne sich zu verrennen.
Seien Sie hingegen nachsichtig mit Ihren Mitmenschen. Seien Sie freundlich zu den Punks am Bahnhof. Seien Sie warmherzig zu Menschen ohne Zuhause oder mit einem Zuhause, aus dem sie flüchten mussten.
Seien Sie verständnisvoll zu psychisch Erkrankten. Lächeln Sie mal einen LVB-Fahrer an, statt ihm hinterher zu fluchen.
Und lieben Sie Leipzig.

Die Welt zu ändern war nie einfach. Den ersten Schritt machen wir alle täglich selbst.