Piraten intern

Seasons in the Sun (Ein persönlicher Nachruf)

Zu diesem Beitrag gibt es aktuell einen weiteren Zwischenstand.


Ich bin heute auf Twitter für diesen Tweet:

angegangen worden, wie ich denn jetzt schon eine Lücke feststellen könne, wo doch quasi gerade erst der Leichenwagen da war.

Wenn ich zurückdenke, war Faxe einfach immer da. Quasi Bestandsmaterial und gleichzeitig Kulturgut der Partei. Wer Faxe gekannt hat, der weiß, daß er schon dann eine Lücke hinterließ, wenn er nur aus einem Raum rausging. Faxe, das war dieser überlebensgroße, gewaltige, unbeirrbare seelenlose Stahlbolzen (Eigenbeschreibung) – der Prototyp eines jeden Piraten.

Dieser Partei, die sich doch mit Faxe immer so schwertat. Die ihm nie den Platz einräumte, der ihm eigentlich gebührte. Weil Faxe eben anders war, eckig, kantig und unbequem. So jemand taugte wohl nicht für die erste Reihe und war gleichzeitig auch nicht für sie gemacht. In diese katastrophale Zerrissenheit haben wir, wir alle Faxe, das kleine große Menschenkind, geworfen. Weil er nicht erste-Reihe-tauglich war und auch selber ungern im Rampenlicht stand, kamen wir halt auch selten auf die Idee, ihm den Dank und die Anerkennung zu spenden, die wir ihm über alle Maßen schulden.

Faxe hat für uns alle fünf Jahre dieses riesige Abenteuer Abgeordnetenhaus durchgehalten, obwohl es ihm Partei, Fraktion und andere Abgeordnete vom ersten Tag an nicht nur nicht leicht, sondern denkbar schwer gemacht haben. Was er dafür vernachlässigt hat, war sein Privatleben, genauer gesagt: den Wuschelkopf. Der Wuschelkopf war, so habe ich Faxe immer verstanden, seine große Liebe. Die, das hat Faxe immer am meisten zu schaffen gemacht, irgendeiner obskuren Sekte anheimgefallen war, während sich Faxe für uns im Abgeordnetenhaus abstrampelte und doch so viel lieber seine Kraft eingesetzt hätte, um den Wuschelkopf aus den Fängen dieser Sekte zu befreien. Die Sorge um ihn verleitete Faxe in den letzten Monaten dazu, seine Kandidatur und seine Zeit im Abgeordnetenhaus zu bereuen, weil er das Gefühl hatte, dort unerwünscht zu sein, nichts zu bewirken und gleichzeitig glaubte, den Wuschelkopf retten zu können, wenn er nur mehr Zeit für ihn und weniger Zeit für die Politik verwendet hätte. Daß selbst ein seelenloser Stahlbolzen gegen eine Sekte machtlos ist – das hat Faxe mir nicht geglaubt.

Daß jemand so eigenständiges, eigensinniges und eigenwilliges wie Faxe mir vertraute, mir Dinge anvertraute – es macht mich stolz. Ich habe nie als selbstverständlich empfunden, daß er zu mir so viel Vertrauen faßte, daß wir uns über Themen abseits der Politik unterhalten konnten. Umso mehr erschütterte mich, wenn nachts das Handy klingelte und ein weinender Faxe sich alle Sorgen um den Wuschelkopf von der Seele redete. Faxe, unerschütterlicher Fels in der Piraten-Brandung – er konnte einen ganz schön hilflos machen.

In vielen der heute eilig zusammengezimmerten Tweets wird Faxe als „nicht einfach“ beschrieben. Ja, Faxe war nicht jedermanns Geschmack, aber so ist das eben mit den besonderen Jahrgängen: sie sind kein Massengeschmack. Auch ich habe mehr als einmal die Augen verdreht, wenn er auf Twitter mal wieder den gesamten Planeten in die Luft sprengen wollte, weil mich ärgerte, daß er mit seiner recht speziellen Art der Psycho-Hygiene von seiner fantastischen politischen Arbeit ablenkte, und so unbeabsichtigt den Eindruck entstehen ließ, er wäre hier bei piratens nur der verschrobene Onkel und nicht das Herz und die Seele der Partei.

Unser letztes Beinahe-Treffen fand (nicht) statt, als er den Wuschelkopf zu einem seiner Sekten-Seminare nach Leipzig begleitete und mich um ein Kaffeetrinken bat. Als ich mitbekam, daß er gar nicht allein hier war, sondern sich für mich eine Stunde abknappsen wollte, sagte ich ihm, er solle doch lieber Zeit mit dem Wuschelkopf verbringen, die ihm doch so wichtig war. Ich sagte ihm, wir würden uns schon demnächst noch mal irgendwie sehen. Daß es dieses nächste Mal nicht mehr geben wird, macht mich unendlich traurig. Ich bin aber glücklich für Faxe, daß er allem Anschein nach (und ich deute jetzt die Zeitungsberichte mal so) beim Wuschelkopf war, und mit ihm zusammen starb. Etwas Besseres und Schöneres in dieser furchtbaren Situation kann ich mir für ihn nicht vorstellen. Im Gegensatz zu dem, was die Bild schrieb, war sein letzter Tweet nämlich der hier:

2016-09-16-wuschelkopf-pixel

Am meisten hat mich immer Faxes Besorgnis um andere Menschen berührt. Diese Besorgnis durfte ich selber oft am eigenen Leibe spüren: kündigte ich einen Berlin-Besuch an, war die erste Frage, ob ich ein Dach über dem Kopf benötige; er würde gern Sofa und Bad zur Verfügung stellen. War ich dann da, wurde ich abgeholt, mit einem Tagesticket für die Verkehrsbetriebe versorgt und verköstigt.
Mehr als einmal hat Faxe angeboten, Leute, die mir zu nahe getreten waren, in Begleitung des seelenlosen Stahlbolzens zu besuchen. Ich habe aus Sorge um sein Führungszeugnis immer abgelehnt, habe aber dennoch zwischen den Zeilen gelesen, was er mir eigentlich sagen wollte.

Heute ist ein Stück epische Piraten-Geschichte zu Ende gegangen. Eine Ära ist beendet, ein sehr langes und abwechslungsreiches Kapitel geschlossen.

2016-09-19-rip-faxe

Ich hab Dich lieb, Faxe, mein Freund.


Zum Weiterlesen:

taz, 05.05.2012: Politik in Latzhosen

Der Tagesspiegel: Zum Tod von Gerwald Claus-Brunner: „Eine Minute stillschweigen“ (leider gelöscht, archivierte Version hier)

Berliner Zeitung: Gerwald Claus-Brunner – Tod eines Unangepassten

Nachruf von Pirat Laser aus Ulm

Nachruf des Berliner Wassertisch

Über

Leipzigerin aus Leidenschaft. Verliebt in die Stadt. Mutter eines Zirkuskaters. Kennt die beste Eisdiele der Stadt.

25 Kommentare zu “Seasons in the Sun (Ein persönlicher Nachruf)

  1. Pingback: Programming note – Ute Elisabeth 'Lily' Gabelmann

Kommentare sind geschlossen.